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  • Politik
  • Umstrittenes Erbe: Wie war das mit dem Nietzsche-Archiv?

Allerlei Legenden

  • Horst H. Lehmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Es ist paradox: Während in der DDR ein fast totales Publikationsverbot für die Schriften Friedrich Nietzsches bestand, trugen die in Weimar liegenden Archiv-Materialien gleichzeitig in entscheidendem Maße dazu bei, die vielleicht bedeutendste Leistung der neueren Nietzsche-Forschung zu realisieren - das Entstehen der Kritischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches und seines Briefwechsels, von den italienischen Gelehrten Giorgio Colli und Mazzino Montinari in den 60er Jahren begonnen und auf 33 Bände der Werke und 24 Bände des Briefwechsels berechnet. Ein Mammutwerk, dem angesichts der zahlreichen Verfälschungen in Texten Nietzsches, wie sie insbesondere von der Schwester des Philosophen, Elisabeth Förster-Nietzsche, betrieben wurden, geradezu die Rolle eines Schlüssels zukommt, der erstmals den Zugang zu diesem Gedankengebäude wirklich zu öffnen vermag. Dessen ungeachtet sahen und sehen sich auch die Hüter dieses Archivs zu DDR-Zeiten häufigen Angriffen und Verleumdungen ausgesetzt, was ihren Umgang mit dem wertvollen Material und den Möglichkeiten des internationalen Zugangs zu ihm betrifft. Wie war es tatsächlich damit bestellt?

Keine Frage, besonders dienlich waren die scharf abwertenden Urteile marxistischer Historiker und Philosophen über Nietzsche der Aufmerksamkeit für dieses in Ostdeutschland lagernde Archivgut

nicht gerade. Von Mehring und Georg Lukacs bis zu Johannes R. Becher und Wolfgang Harich hatte es daran nicht gefehlt und die darauf gestützte offizielle Ignoranz staatlicher Institutionen der DDR trug das Ihre dazu bei. Im Lande wurde die Auseinandersetzung mit Nietzsche, und sei es zum.-, Zwecke der Kritik, nur von wenigen einzelnen gesucht. Dennoch konnte der langjährige Direktor des Goethe- und Schiller-Archivs, Karl-Heinz Hahn, 1988 feststellen: »Die handschriftliche Hinterlassenschaft Friedrich Nietzsches, heute einer unter einhundertzwanzig Beständen des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, wurde und wird oft konsultiert. Entsprechend den Möglichkeiten eines Archivs wird dabei uneingeschränkt und vorbehaltlos Hilfe gewährt.« Vor allem ausländische Forscher waren es, die auf solche Weise bedient wurden.

Diesen Aspekt zu verdeutlichen und ihn in historische Zusammenhänge einzuordnen, hat jetzt Werner Schubert unternommen, der von 1982 bis 1990 Chef der nationalen Forschungs-und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar gewesen ist. 'Unter dem Titel »Friedrich Nietzsche und seine Nachwelt in Weimar« lenkt er den Blick des auf einige Drehpunkte im Umgang mit Biographie und Werk des Philosophen an der Stätte, wo dieser seine letzten Lebensjahre verbracht hatte und gestorben war

Schuberts Aufmerksamkeit gilt zunächst der Begründerin des Archivs und des in Weimar seit Beginn des Jahrhunderts inszenierten Nietzsche-Kults, Elisa-

beth Förster-Nietzsche. Wenn über das unheilvolle Wirken dieser ebenso raffinierten wie gefährlich-umtriebigen Person auch schon viel geschrieben worden ist, gibt Schubert doch ein höchst übersichtliches und anschauliches Bild davon. Sie vermochte es, dem Andenken und Nachwirken ihres Bruders eine religiöse Weihe zu geben und das Interesse Hitlers und Mussolinis für den Ausbau der Nietzsche-Legende zu nutzen. Nicht zuletzt dadurch dürfte die Arbeit an diesem Erbe behindert wie insbesonders auch eine einseitig-kritische Einschätzung der geistes- und ideologiegeschichtlichen Rolle des Philosophen mit hervorgerufen worden sein. Die Darstellung dieser Phase weimarischen Umgangs mit Nietzsche hat natürlich im Rahmen dieses Textes auch eine spezielle Funktion: nämlich berechtigterweise den Unterschied herauszuarbeiten zu der Tätigkeit der Archivverwalter in den Jahren nach 1945, über die es dann kontrastierend heißt: »Das Archiv wurde jedoch weder ein Zentrum religiösen Kults noch ein Tummelplatz von Gläubigen oder gar von Politikern, die ihr Besuchsprogramm zu absolvieren hatten, sondern blieb der wissenschaftlichen Arbeit vorbehalten.«

Im Anschluß daran teilt Werner Schubert einige bisher weniger bekannte Tatsachen über den Verbleib des Archivs in der ersten Nachkriegszeit mit. Der langjährige Archivleiter während der Naziherrschaft, Major a. D Max Oehler, Mitarbeiter und Verwandter von »Lieschen« Nietzsche, verschwand, nachdem er am 6. Dezember 1945 zum Verhör in die sowjetische Kommandantur gerufen wurde.

»Über sein weiteres Schicksal gibt es nur Vermutungen«, heißt es lakonisch, aber es dürfte sich wohl am Ettersberg oder auch weiter östlich davon vollzogen haben. Das Archiv wurde auf Anordnung der Sowjetischen Militär-Administration geschlossen, die Bücher und Archivalien in 111 Kisten verpackt und in der Weimarer Waggonfabrik (mit Bahnanschluß!) gelagert. Wenn sie nicht als Bestandteil des bis auf den heutigen Tag umstrittenen sogenannten kulturellen Beutegutes abtransportiert wurden, so ist das offensichtlich vor allem das Verdienst des damaligen Direktors des Goethe- und Schiller-Archivs in Weimar, Hans Wahl, auf dessen Initiative hin sich der Präsident des Landes Thüringen, Paul, in dieser Angelegenheit an die sowjetischen Behörden wandte. Als ein wichtiges Argument diente dabei der Hinweis auf die Notwendigkeit, den »wahren Nietzsche« von den Fälschungen der früheren Archiv-Verantwortlichen zu befreien. Ein Hauptmann Oserewski und ein Oberleutnant Borochowski ließen sich überzeugen, die Kisten wurden wieder zurückgeschafft. Wer diese Entscheidung de facto traf, bleibt im Dunkeln, doch ist es ja kein Geheimnis, daß es unter den leitenden sowjetischen Kulturoffizieren nicht wenige gab, denen die deutsche Kultur am Herzen lag und die mit dem Auftrag angetreten waren, die Demokratisierung in diesem Bereich zu fördern. Ein ungefälschtes Nietzsche-Bild mochte durchaus zu dieser Order passen. Daß es dazu zunächst nicht kam, steht auf einem anderen Blatt. Immerhin blieben ja auch die Schätze im Umkreis der Goethe- und Schiller-Stätten vor der Verschleppung bewahrt.

Die folgenden Schwierigkeiten bei der Unterbringung und weiteren Bearbeitung der geretteten Nietzsche-Materialien lassen jedoch bereits ahnen, daß auf die Periode der Verfälschungen eine längerwährende Zeit zumindest der Vernach-

lässigung folgte. 1950 wurden die Nietzsche-Dokumente dann in das Goethe- und Schiller-Archiv überführt, dessen technisch günstigere Bedingungen die Bestände sicherten und ab Mitte der 50er Jahre den »international üblichen Zugang« für wissenschaftliche Arbeit ermöglichten. Trotz aller hier vorgestellten Probleme läßt Werner Schubert erkennen, daß es in der Folgezeit an den Möglichkeiten seriöser Arbeit mit den Materialien des Nietzsche-Archivs keinen Zweifel geben kann.

Ein Schlußkapitel wirft den Blick auf »Nietzsches Weimarer Nachwelt im Zeichen der Reconquista«. Damit sind die Geschehnisse nach der Wende von 1989 gemeint. Der 150. Geburtstag des Philosophen im Jahre 1994 bot Anlaß, die weniger glanzvollen Zeiten des Umgangs mit Nietzsche endlich zu korrigieren. Folgt man der von Ironie nicht ganz freien Darstellung Schuberts, dann hat diese Unternehmung zu eher kläglichen Ergebnissen geführt. Ein Skandal erster Klasse gar das Scheitern der Tagung »Jüdischer Nietzscheanismus seit 1888« - weil die nun zuständige Stiftung Weimarer Klassik ausgerechnet den hinlänglich als rechtslastig bekannten Historiker Ernst Nolte dort auftreten lassen wollte und deshalb maßgebliche wissenschaftliche Beiträger ihre Teilnahme absagten. Bedenkliche Erscheinung eines neuen gefährlichen Zeitgeistes! - Dieser Einschätzung des Autors muß man zustimmen. Da ist es schon fast beruhigend, wenn er abschließend nüchtern feststellt: »Ein ersehnter oder befürchteter Neu-Nietzscheanismus liegt im Augenblick wohl in weiter Ferne.«

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